Erste hydroaktive Gebäudefassade

Aussenansicht des Prüfstands am adaptiven Hochhaus auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart mit ersten hydroaktiven Fassadenprototypen und umfangreicher Messtechnik. Foto: Sven Cichowicz
Aussenansicht des Prüfstands am adaptiven Hochhaus auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart mit ersten hydroaktiven Fassadenprototypen und umfangreicher Messtechnik. Foto: Sven Cichowicz

Die Glasfassade eines Hochhauses kann so heiss werden, dass man darauf Spiegeleier braten kann – ein wesentlicher Faktor für die Überhitzung unserer Städte. Andererseits produzieren Hochwasserereignisse wie sintflutartige Monsunregen jährlich Schäden in Milliardenhöhe. Eine Lösung für beide Probleme wurde Anfang Oktober 2022 an der Universität Stuttgart vorgestellt: Eine hydroaktive Fassade, die nicht nur Aussenwände und das Gebäudeinnere, sondern auch den Stadtraum kühlt. Die textilen Fassadenelemente mit dem Namen «HydroSKIN» nehmen dafür bei Regen Wasser auf und geben dieses an heissen Tagen zur Verdunstungskühlung wieder ab. 

 

Das Luftbild der Metropole Singapur, aufgenommen mit einer Wärmebildkamera, zeigt viele orange-rote Flecke und nur einen grün-blauen. Die roten Zonen repräsentieren bebaute Gebiete. Dort sind die Temperaturen um rund 10 Grad höher als in den «grünen» Parks. Der Grund dafür: Über natürliche Oberflächen verdunsten rund 60 Prozent des eintreffenden Regenwassers und sorgen so für Abkühlung. Versiegelte Strassen- und Gebäudeoberflächen lassen dagegen nur 10 Prozent Wasserverdunstung zu. Die restlichen 90 Prozent gelangen in die Kanalisation und führen zu einem weiteren weltweiten Problem: verheerende Überschwemmungen durch Starkregen. Steigende Urbanisierung, bauliche Verdichtung und zunehmende Flächenversiegelung verschlimmern – neben den Auswirkungen des Klimawandels – Hitze- und Hochwasserrisiken in unseren Städten.

Eine technische Verbesserung der Kanalisation zur Verminderung der stetig zunehmenden Wassermassen würde einen enormen baulichen Aufwand mit sich bringen. Zudem sei dies in Zeiten knapper Ressourcen keine gute Lösung, meint Prof. Werner Sobek, bis 2020 Leiter des Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart und früherer Sprecher des Sonderforschungsbereichs SFB 1244 «Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen»: «Hydroaktive Elemente dagegen stellen bei minimalem Ressourceneinsatz eine effektive Fassadenlösung zur Neutralisierung des städtischen Hitze-Insel-Effektes dar.»

Hohe Luftzirkulation fördert die Verdunstung
Das Kernelement der HydroSKIN ist ein so genanntes Abstandsgewirke, zwei textile Lagen, die durch Fäden auf Abstand gehalten und dadurch gut durchlüftet werden. Die hohe Luftzirkulation fördert die Verdunstung von Wasser und verstärkt den Kühleffekt der Fassade. Das Gewirke ist an der Aussenseite von einer wasserdurchlässigen Textilhülle umgeben, die nahezu alle Regentropfen eindringen lässt und gleichzeitig das Gewirke vor Verunreinigungen schützt. Eine Folie an der Innenseite leitet das Wasser in das untere Profilsystem ab. Von dort kann es, entweder in einem Reservoir gespeichert oder direkt im Gebäude genutzt, den Wasserverbrauch reduzieren. An heissen Tagen wird Wasser in das Fassadenelement zurückgeleitet, verdunstet dort und sorgt so für den natürlichen Kühleffekt. «Dieses Fassadensystem stellt eine artifizielle Retentionsfläche zur Regenwasserrückhaltung und -verdunstung in der Gebäudefassade dar. Durch ihre optischen und haptischen Qualitäten ist sie nicht nur unglaublich schön, sondern zugleich ein Meilenstein für die Anpassung der gebauten Umwelt an die akuten Herausforderungen unserer Zeit», erklärt Christina Eisenbarth, Akademische Mitarbeiterin am ILEK und Erfinderin von HydroSKIN.

Innenansicht des Prüfstands. Foto: Sven Cichowicz
Innenansicht des Prüfstands. Foto: Sven Cichowicz

Hochhausfassaden haben besonders viel Potenzial
Hochhäuser zeigen besonderes Potenzial zur Anwendung hydroaktiver Fassaden – und das nicht nur aufgrund ihrer grossen Fassadenfläche. Zum einen trifft der Regen mit zunehmender Höhe als Schlagregen schräg auf die Fassade, so dass ab etwa 30 Metern Gebäudehöhe mehr Regen über die Fassade aufgenommen werden kann als von einer gleich grossen Dachfläche. Zum anderen verstärken die hohen Windgeschwindigkeiten den Verdunstungskühleffekt und es entsteht ein kühler Luftstrom, der abwärts in den Stadtraum zieht.

Erste HydroSKIN-Elemente werden derzeit am weltweit ersten adaptiven Hochhaus auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart getestet, dem Flaggschiff des Sonderforschungsbereichs 1244 und ausgewähltes Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA). «Die Ergebnisse sind vielversprechend. Bereits in Laboruntersuchungen konnten wir ca. 10 Grad Temperaturreduktion durch den Effekt der Evaporation nachweisen. Die ersten Messungen am Hochhaus Anfang September weisen auf ein noch deutlich höheres Kühlpotenzial hin», erklärt Christina Eisenbarth.

«2023 wird eine weitere Etage des adaptiven Hochhauses D1244 mit HydroSKIN-Elementen realisiert. Nach und nach soll jedes Geschoss des Gebäudes mit neu entwickelten und innovativen Fassaden ausgestattet werden, die einen Beitrag zu mehr Ressourceneffizienz und Klimaschutz leisten werden», verkündet ILEK-Leiter Prof. Lucio Blandini, verantwortlicher Planer für das D1244 und stellvertretender Sprecher des SFB 1244.

Der Einsatz der hydroaktiven Fassadenelemente bleibt jedoch nicht auf das Forschungshochhaus beschränkt: Da die HydroSKIN-Elemente sehr leicht sind, können sie an jeder Fassade im Neubau wie auch im Gebäudebestand nachträglich angebracht werden.