Tummelfeld öffentlicher Raum

Tummelfeld öffentlicher Raum. Foto: Etienne Girardet/Unsplash
Die gemischte Nutzung des öffentlichen Raums findet mehr Anhängerinnen und Anhänger. Foto: Etienne Girardet/Unsplash

Öffentlicher Raum ist eigentlich Allgemeingut. Was in ihm geschieht, wird aber selten von der Allgemeinheit bestimmt oder abgesegnet. Manchmal ist das schwer zu tolerieren. Zusammenstösse sind fast unvermeidlich. Die einzige Lösung heisst: Langsamkeit.
Text: Manuel Pestalozzi

 

Der öffentliche Raum ist eine der Schlüsselgrössen der Architektur und des Städtebaus. Die Politik und die gestaltende Planungsbranche wollen ihm eine Form geben, ihn möblieren, begrünen. Er soll ein wertvolles Gegenüber des individuellen Grund- und Immobilienbesitztums sein und diesen, sagen wir mal, harmonisch ergänzen. Der öffentliche Raum ist allerdings keine Schaufläche, Schilder wie «Rasen betreten verboten», sieht man in ihm heute eher selten; das Individuum kann sich vielerorts ausbreiten, wie es gerade Lust dazu hat und das tun, wonach ihm gerade zumute ist – grundsätzlich nach dem Motto first-come, first-served. Schliesslich ist der öffentliche Raum ein bedienter Raum, dessen Unterhalt und Pflege von der Allgemeinheit getragen wird.

Mit staunender Faszination betrachten wir frühe Filmausschnitte, in denen öffentliche Ballungsräume in städtischen Zentren der Belle Époque gezeigt werden. Die Menschen tragen im öffentlichen Raum zwar alle Hüte, aber sie marschieren oder dirigieren ihre Gefährte dorthin, wo es ihnen gerade einzufallen scheint, kreuz und quer, ohne Rücksicht auf irgendwelche Regeln. Das führte unweigerlich zu hässlichen Unfällen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts vermehrten sich Schranken, Tafeln, Ampeln, Poller, Teiler, Masten und Bodenbemalungen exponentiell. Alle diese Ergänzungen symbolisierten ein Regelwerk, dem die Menschen im öffentlichen Raum zu folgen haben. Die Nutzungen und Nutzungsbefugnisse wurden gegliedert, geordnet, entflechtet und getrennt. Leitplanken zeigen, wo es lang geht.

In jüngerer Zeit schwingt das Pendel wieder zurück. Die gemischte Nutzung des öffentlichen Raums findet mehr Anhängerinnen und Anhänger. Die einstige Entflechtung ersetzt unter dem Banner einer «Wiedereroberung» erneut ein Gewusel. Irgendwie sollte man wieder überall alles machen können. Nun ist es so, dass sich die Mentalität des Menschen seit der Belle Époque nicht wirklich geändert hat. Das Recht des Stärkeren oder der Gruppe gegenüber dem einzeln dahinnavigierenden Individuum wird im öffentlichen Raum ebenso resolut eingefordert wie damals. Das wissen alle, deshalb werden die Regeln und die aufgezählten, an Ordnung gemahnende Objekte im öffentlichen Raum kaum eingeschränkt. Vielmehr ergänzt man sie mit Kantsteinen, Niveau- und Belagswechseln und noch mehr Bodenbemalungen. Sie erinnern daran, dass es noch eine Ordnung gibt. Nur kann sie niemand mehr verstehen und daher auch schwer befolgen.

Tummelfeld öffentlicher Raum. Foto: Manuel Pestalozzi
Der öffentliche Raum soll jetzt über eigentliche Sport und Erholungszonen hinaus auch ein Spielplatz sein.
Foto: Manuel Pestalozzi

Spielraum für alle
Eine jüngere Erscheinung der Nutzungsüberlagerungen im öffentlichen Raum ist das Spiel. Der öffentliche Raum soll jetzt über eigentliche Sport und Erholungszonen hinaus auch ein Spielplatz sein. Das geht mittlerweile weit über den markierten winterlichen Schlittelweg hinaus. Vor wenigen Tagen eröffnete die Stadt Zürich ihr «Urban Golf»-Angebot. «Urban Golf» wird auf öffentlichem Gelände gespielt, mit Ball und Schläger, die auf einer Amtsstelle abgeholt werden können. Gespielt wird der Ball auf Abfallkübeln, Strassenlaternen oder Trinkbrunnen. Zwischen Abschlag und diesen Zielen befinden sich Wege, in der Nähe Ruhebänke und Spielplätze. Offenbar warteten weite Teile der Bevölkerung auf diese Art der Zerstreuung. Noch hat man nicht gehört, dass «Urban Golf»-Bälle an Köpfen von nichtsahnenden Passanten abgeprallt sind. Lange wird man nicht abwarten müssen.

Wer da nicht mitspielen, sondern einfach von A und B wandern oder sich passiv ausruhen will, sieht sich unter diesen Umständen manchmal im Nachteil. Ebenso der Velofahrer, der die Strassenregeln beachtend mit Tempo seinem Ziel entgegenstrebt und sich nicht von einem Schwarm Slalom fahrender Rollbretter das Bremsen vorschreiben lassen will. Der Nachteil ergibt sich aus vollendeten Tatsachen, neuen Gepflogenheiten, aus der Passivität oder der individuellen Schwäche der Partei, die ihn als Irritation empfindet. Deswegen Rechtshändel einzugehen, ist nicht ratsam. Ein besseres, erfolgreicheres Rezept dürfte die Wiederentdeckung der Langsamkeit sein. Und eine behutsame, vorausschauende Annäherung an den öffentlichen Raum in dem sich eben nicht nur Gleichgesinnte tummeln.