Die Schweiz ist im jüngsten Klimaländervergleich zurückgefallen. Vor allem beim Zubau neuer Erneuerbarer Energien mache sie zu langsam vorwärts, kritisiert Nationalrat Jürg Grossen. Für die Grünliberalen wünscht sich der GLP-Präsident mittelfristig eine Vertretung im Bundesrat. Es brauche eine neue Konkordanzformel ohne linke oder rechte Übervertretung. Bei der Totalrevision des CO2-Gesetzes möchte Grossen rasch vorankommen. Und als Gebäudetechniker sieht der Präsident der KGTV noch viel Ausbaupotenzial – vor allem in den Bereichen Photovoltaik und Elektromobilität. Text: Antonio Suárez
Was gefiel Ihnen, was nicht an den Bundesratswahlen vom 11. Dezember 2019?
Jürg Grossen: Ich begrüsse sehr, dass eine Diskussion um einen ökologischeren Bundesrat losgetreten worden ist. Womit ich Schwierigkeiten bekunde, ist das grosse Tamtam, das stets um Erneuerungswahlen gemacht wird, obwohl dann alles beim Alten bleibt. Die Zusammensetzung des Bundesrates ist wichtig. Doch man darf nicht vergessen, dass die Gesetze – zum Beispiel für mehr Ökologie – letztendlich im Parlament gemacht werden. Dort spielt die Musik.
Und im Parlament kam es ja nach den Wahlen zu bedeutenden Verschiebungen.
Genau, es gab einerseits namhafte Verschiebungen hin zu mehr Klimaschutz. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass deswegen die Bäume noch nicht in den Himmel wachsen. Es ist aber unser Ziel, dass die GLP verstärkt ihre Brückenfunktion zur Umsetzung guter Lösungen ausfüllt, und zwar zwischen den Linksgrünen, die weit davon entfernt sind, mehrheitsfähig zu sein, und den bürgerlichen Parteien. In dieser Brückenfunktion sehe ich unsere Verantwortung.
Die Konkordanz-formel in der heutigen Form hat keine Zukunft
Der Bundesrat bildet die Kräfteverhältnisse im Parlament nicht mehr so gut ab wie vor den Wahlen. Muss die Konkordanzformel erneuert werden?
Ja, in der heutigen Form hat sie keine Zukunft. Die Wählenden sind heute nur noch zu 68 Prozent im Bundesrat vertreten. Durch eine neue Konkordanzformel müssen die Wählenden künftig wieder stärker im Bundesrat abgebildet werden. Dafür braucht es einen Dialog mit allen Parteien, den wir in der nächsten Zeit führen werden. Leider spüre ich jetzt schon, dass bei vielen Parteivertretern die Motivation dafür sinkt, jetzt, wo die Regierungsparteien ihre Bundesräte im Trockenen haben. Diese Haltung verurteile ich in aller Form. Denn sie wird dazu führen, dass nun bei jeder Vakanz der Streit wieder von vorne losgeht. Für mich ist klar, dass wir nicht von einer rechten zu einer linken Übervertretung wechseln sollten. Das wäre ja geschehen, wenn die Grünen einen Sitz erhalten hätten. Die linken Parteien müssen sich einigen, wie sie die Sitze untereinander verteilen wollen, genauso die rechten Parteien. Und die Mitte hat meiner Meinung nach Anspruch auf zwei Sitze.
Will die GLP mittelfristig im Bundesrat vertreten zu sein? Und falls ja: Würden Sie zu gegebener Zeit eine Kandidatur in Erwägung ziehen?
In den Bundesrat zu kommen, ist für die GLP das erklärte Ziel. Denn wir wollen die Schweiz auf allen Ebenen mitgestalten. Eine Bundesratskandidatur stellt sich für mich momentan nicht. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, die Arbeit im Parlament gut zu machen, damit wir bei den nächsten Wahlen erneut zulegen können. Nur so werden wir als Partei eine Chance haben, in den Bundesrat zu kommen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.
Im Nationalrat hat die GLP grosse Sitzgewinne verzeichnet. Werden Ihre Geschäfte nun besser vorankommen?
Ganz sicher. Es ist klar, dass wir jetzt 16 satt nur sieben Stimmen in die Waagschale werfen können. Aber das alleine reicht nicht. Wie gesagt, müssen wir jetzt unsere Brückenfunktion verstärkt wahrnehmen. Sowohl die CVP wie auch die FDP haben sich durchaus mit ökologischen Standpunkten positioniert. Jetzt geht es darum, diese Versprechungen in Lösungen umzuwandeln, hinter denen ein liberaler Kompass steht. Eine gewisse Selbstverantwortung sowie Anreizsysteme müssen eine Rolle spielen, anstelle von immer mehr Verboten und Geboten. Ich bin überzeugt, dass dies nun besser gelingen wird als in der vergangenen Legislatur.
Die Totalrevision des CO2-Gesetzes ist eines Ihrer Kerngeschäfte. Welche Eckpunkte sollten im neuen Gesetz verankert werden?
Die Revisionsvorlage, wie sie vom Ständerat angenommen wurde, ist schon einmal eine gute Grundlage. Sie enthält die Flugticketabgabe. Und bei den Gebäuden ist eine deutliche Verschärfung des erlaubten Ausstosses vorgesehen, sobald eine Erneuerung ansteht. Mit einer besseren Dämmung oder dem Wechsel der Heizung kann der Gebäudeausstoss deutlich reduziert werden. Beim Verkehr schliesslich ist eine Abgabe auf Benzin vorgesehen. Persönlich hätte ich eine Lenkungsabgabe bevorzugt. Aber mit der derzeitigen Lösung kann ich leben. Trotzdem werden wir versuchen, im Nationalrat einige Verbesserungen an der Ständeratsvorlage anzubringen. Entscheidend wird aber auch das Tempo sein. Wir müssen vorwärts machen, damit das Gesetz sobald wie möglich seine Wirkung entfaltet. Wir dürfen nicht vergessen, sobald das Gesetz einmal durch ist, kommt wohl noch eine Volksabstimmung und danach dauert es noch mindestens ein halbes Jahr bis es in Kraft tritt. Danach vergehen weitere Monate, wenn nicht Jahre bis es auch in den Kantonen umgesetzt wird.
Welche konkreten Änderungen stellen Sie sich vor?
Was im Gebäudebereich noch fehlt, ist die klare Vorgabe, dass jedes dafür geeignete Gebäude ein Kraftwerk sein soll, das eigene Energie produziert. Jedes Gebäude sollte zudem intelligent sein und möglichst wenig Energie verbrauchen. Die Gebäudetechnik kann hier zu wesentlich mehr Energieeffizienz beitragen. Diese Punkte sind in der Gesetzesvorlage noch zu schwach. Die Produktion von erneuerbarer Energie in jedem Gebäude und die Energieeffizienz müssen folglich stärker betont werden.
Die Gebäude sind die Tankstellen der Zukunft
Was lässt sich abgesehen vom CO2-Gesetz in den nächsten vier Jahren für die Gebäudetechnik sonst noch auf den Weg bringen? Welche Erwartungen haben Sie?
Wir müssen in ganz vielen Bereichen Einzelmassnahmen beschliessen. Ein ganz wesentlicher Punkt ist beispielsweise die Photovoltaik. Es muss einfacher werden, im Quartier Strom hindernisfrei zu verteilen und zu verbrauchen. Zurzeit ist dies wegen des Netzentgelts noch mit vielen Hürden verbunden. Diese müssen wir nun rasch abbauen, damit auch mehr finanzielle Anreize entstehen, um den vor Ort produzierten Strom lokal zu verbrauchen, auch in einem Mehrfamilienhaus und im Quartier. Auf der anderen Seite erwarte ich im Bereich der Elektromobilität einen grossen Wandel. Die Verbrennungsmotoren für Autos werden in absehbarer Zeit verschwinden. Die Autobranche investiert bereits jetzt Unsummen in Elektrofahrzeuge. Es ist klar, dass die in grossen Mengen in den Markt kommen werden. Und hier spielt die Gebäudetechnik eine wichtige Rolle, denn die Gebäude sind die Tankstellen der Zukunft. In Gebäuden werden 80 bis 90 Prozent der Batterieladungen erfolgen.
Die Architekten und Ingenieure haben es bisher verpasst, eine gute Infrastruktur für Elektroautos in den Gebäuden zu planen oder sogar zu installieren. Bewohner von Mehrfamilienhäusern möchten sich solche Fahrzeuge anschaffen und haben keine Ladestationen. Aus diesem Grund habe ich vor Jahren dazu ein SIA-Merkblatt angeregt, das nun endlich da ist. Zudem habe ich einen Vorschlag im CO2-Gesetz und zusätzlich eine Motion gemacht, damit es Unterstützung gibt für Investitionen in solche Ladestrukturen. Auf Bundesebene gibt es dafür genügend Förderinstrumente, zum Beispiel den NAF-Topf, in den die Sanktionen für verpasste CO2-Emissions-Zielvorgaben fliessen. Dieses Geld könnte man beispielsweise zur Finanzierung von Ladeinfrastrukturen in Mehrfamilienhäusern verwenden, damit die Hausbewohner nicht auf den Kauf eines Elektroautos verzichten müssen, nur weil sie es nicht aufladen können.
In Madrid fand kürzlich die Klimakonferenz statt. Dort wurde bekannt, dass die Schweiz im Hinblick auf den Fahrplan des Pariser Klimaabkommens einige Ränge zurückgefallen ist. Macht die Schweiz in Sachen Klimapolitik Rückschritte?
Wir machen keine Rückschritte, aber viel zu wenig Fortschritte. Wir sind sehr langsam unterwegs, um nicht zu sagen statisch. Beim Zubau von neuen Erneuerbaren Energien sind wir auf Rang 25 in Europa, also ganz weit hinten. Es wird nur sehr wenig Photovoltaik und Windenergie zugebaut. Wir sind klar im Rückstand und müssen nun endlich vorwärtsmachen.
Auf Architekten und auf Gebäude-techniker wartet noch viel Arbeit
Sie sind als Unternehmer selber in der Gebäudetechnikbranche aktiv. Gibt es Dinge, die Sie im Alltag ärgern und verbessert werden könnten?
Es sei vorausgeschickt, dass sehr Vieles gut gemacht wird. Gegenüber früher gibt es heute deutliche Verbesserungen in vielen Bereichen der Gebäudetechnik, die zu mehr Energieeffizienz geführt haben und auch den Ansprüchen der Zukunft genügen. Trotzdem genügt eine Grosszahl der Gebäude, die heute fertiggestellt werden, diesen Anforderungen leider noch nicht. Um klimaverträglich zu sein, muss man später noch einmal in diese Gebäude investieren. Sowohl bei den Architekten, Ingenieuren und Beratern als auch bei den Ausführenden ist noch zu wenig Sensibilität für eine klimagerechte Bauweise vorhanden. Ein Architekt, der heute ein Gebäude nicht als intelligentes Kraftwerk plant, verursacht beim Eigentümer der Liegenschaft spätere Folgekosten, um es klimatauglich zu machen. Das darf nicht sein. Hier wartet auf Architekten und auch auf uns Gebäudetechniker noch viel Arbeit.
Die Baukonjunktur läuft sehr gut in der Schweiz. Welche wirtschaftlichen Entwicklungen erwarten Sie im Sanierungs- und Umnutzungsbereich?
Tatsächlich werden zurzeit noch sehr viele Neu- und Ersatzneubauten realisiert. Doch wir müssen noch mehr sanieren. Bei alten Gebäuden mit wirklich schlechter Bausubstanz bin ich auch für Ersatzneubauten. Wo es hingegen möglich ist, die Bausubstanz auch aus ökologischen Gründen mit einer Sanierung zu erhalten und in verbesserter Form weiterzuverwenden, sollte man dies tun. Wenn im neuen CO2-Gesetz mit einer Emissionsobergrenze ein Anreiz geschaffen wird, führt dies automatisch dazu, dass die Gebäude energieeffizienter gebaut werden. Statt Tausende von Wärmebrücken beim Baugesuch nachzuweisen, wäre es besser zu ermitteln, welchen Treibhausgasausstoss bzw. Energieverbrauch das Gebäude verursacht. Eine mögliche Lösung wäre es, von Besitzern solcher ineffizienten Gebäude höhere Abgaben zu verlangen. Besitzer sauberer Gebäude würden dagegen von reduzierten Abgaben oder gar einer Befreiung profitieren. Wenn ein solcher Ansatz im neuen CO2-Gesetz verankert würde, könnten im Gegenzug gegenwärtige Bauvorschriften und Hindernisse abgebaut werden.
Die KGTV wurde 2013 gegründet. Inzwischen sind ihr 34 Kollektivmitglieder beigetreten. Wie hat sich der Dachverband in all den Jahren entwickelt?
Den Dachverband gründeten wir mit dem Ziel, in der Gebäudetechnik eine gemeinsame Stimme für die Energiestrategie 2050 ins Leben zu rufen. Seither haben wir zahlreiche Eingaben gemacht, die erfolgreich waren und heute zum Teil Gesetz sind. Mit dem klaren Bekenntnis zum Pariser Klimaabkommen und der Festlegung neuer Zielsetzungen verfügt die KGTV über eine Berechtigungsgrundlage, um ihre erfolgreiche Arbeit fortzusetzen. Die Koordinationsfunktion der KGTV in Bezug auf die Politik, die Zielsetzungen und die Realisierung technischer Lösungen ist gerechtfertigt, solange man sich diese Ziele klar setzt. Es ist von entscheidender Bedeutung zu wissen, wohin die Reise geht.
Im November 2019 haben Sie das neue Strategiepapier der KGTV präsentiert. Was erhoffen Sie sich für den Dachverband?
Mit dem Strategiepapier haben wir uns als Branche klar dazu bekannt, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Es ist ein starkes Bekenntnis, das in die gesamte Branche ausstrahlen wird, aber auch darüber hinaus. Den Leuten muss bewusst sein, dass wir Gebäudetechniker die Lösungen bereits haben, die es jetzt umzusetzen gilt. Dank Photovoltaik, intelligenter Gebäudetechnik und Elektromobilität können wir bereits heute ein klimaschonendes Leben führen, ohne dass wir dafür zurück in die Höhle müssen.
Konferenz der Gebäudetechnik-Verbände (KGTV)
Die KGTV ist ein Zusammenschluss aus 34 Vereinen und Organisationen aus der Gebäudetechnikbranche. Zum statuarischen Zweck des Vereins gehören unter anderem die Interessenkoordination seiner Kollektivmitglieder gegenüber Politik und Behörden hinsichtlich der Energie- und Umweltpolitik sowie die Erarbeitung von Massnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Reduktion der CO2-Emissionen. Gegründet wurde die Konferenz im Mai 2013. Sitz der Geschäftsstelle ist Bern. Oberstes Entscheidungsorgan ist die Generalversammlung der Mitgliedervereine, die mindestens einmal jährlich tagt. Zusätzlich findet jeweils im Herbst eine Plenarversammlung statt. Der Vorstand setzt sich aktuell aus zehn führenden Mitgliedervertretern zusammen. Präsidiert wird er seit 2017 von Nationalrat Jürg Grossen (GLP).